Dienstag, 24. Dezember 2013

Kontrolle und ihre Grenzen

In letzter Zeit gab es einige Artikel und Videos über Slacklinen, in denen viel von "Kontrolle" die Rede war. Hier ein paar Gedanken dazu.

Sich selbst in eine Situation zu bringen, die schwierig zu kontrollieren ist, und dann die Kontrolle wiederzuerlangen, ist das Grundthema der meisten sportlichen Aktivitäten. Kontrolle hat in vielen traditionellen Sportarten, gerade in der Welt des Turnens, einen besonders hohen Stellenwert: Jede Bewegung hat kontrolliert zu erfolgen, mit einer gewissen Körperspannung. Eine bestimmte Übungsreihe ist einzuhalten, und erst wenn die Einzelübungen kontrolliert ausgeführt werden können, darf der Athlet zur nächsten Aufgabe weitergehen.
Trendsportarten sind in dieser Hinsicht weniger streng: Jemand zeigt etwas Interessantes vor, einen bestimmten Trick, und man versucht ihn zu imitieren, mittels Versuch und Irrtum und oft mit einem gewissen Restrisiko sich dabei zu verletzen.
Etabliert sich ein Trendsport immer mehr, so treffen diese beiden Welten aufeinander: Man versucht, die Lernmethoden zu professionalisieren, was anfangs durchaus zu Konflikten führt, aber im Endeffekt den Lernprozess beschleunigen und das Verletzungsrisiko verringern kann.
Ich selbst habe diesen Prozess beim Sportklettern beobachten können, das ich ohne strikte Methodik erlernt habe. Erst später habe ich das bereits vorhandene methodische Wissen dazu erworben und dann auch recht erfolgreich als Jugendtrainer gearbeitet.
Mir erschien es damals so, als ob zwei völlig gegensätzliche Pole aufeinanderprallen: Kreativität gegen Konformismus. Klettern, wie ich es kennengelernt habe, war der Versuch, die richtigen Bewegungen für bestimmte Probleme zu finden. Und zwar kreativ, eigenverantwortlich, immer aufs Neue, weil jedes Stück Fels unterschiedlich ist. In Reinform sieht man diesen Prozess beim Bouldern. Als ich zum ersten Mal von einer "Standardbewegung" fürs Sportklettern hörte, war ich erstaunt: Wie sollte das funktionieren, wo doch natürlicher Fels so facettenreich ist und oft ungewöhnliche Lösungen zum Ziel führen? Erst später verstand ich, dass gerade bei Ausdauerproblemen im Sportklettern dieser individuelle Zugang an seine Grenzen kommt und es manchmal nötig ist, dem Fels einfache Bewegungen aufzuzwingen, anstatt die effektivste Lösung zu finden. Dennoch habe ich mich mit meinen Jugendlichen darauf konzentriert, ihnen möglichst viele unterschiedliche Bewegungen beizubringen, bevor sie in professionellere, aber auch eintönige Trainingszyklen geraten.
Der Stellenwert der Kreativität im Sportklettern, speziell beim Bouldern, lässt sich einfach erklären: Sportklettern ist jung, eine Beschäftigung von Freigeistern, die spielerische, kreative Lösungsansätze lieben. Ebenso wenig verwunderlich ist der Gegenpol von der etablierten Sportwissenschaft: In traditionellen Sportarten ist viel Wissen und Erfahrung vorhanden und es gab genügend Zeit, die perfekte Methode zu finden. Neue Zugänge können hier nur eine Abweichung vom Optimum sein.
Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Nur sehr selten wird die Tatsache thematisiert, dass das Turnen aus einer anderen Zeit stammt und einen Hintergrund als Methode zur Volksertüchtigung für bevorstehende Kriege hat. (Nachzulesen etwa hier.) Obwohl diese Motive natürlich längst Vergangenheit sind, lässt sich nicht leugnen, dass der Methodik etwas Militärisches anhaftet und dass individuelle Kreativität hier nicht von Nutzen, sondern eher hinderlich ist.
Beim Sportklettern sind diese beiden Pole oft recht augenscheinlich: Ich habe Kletterer kennengelernt, die vom Turnen kommen und in Ausdauerrouten sehr stark sind, aber beim Bouldern völlig hilflos. Umgekehrt hatten reine Kletterer, die begeisterte Boulderer waren, eher Probleme mit homogenen Ausdauerrouten. Auch heute noch gibt es international Vertreter beider Gruppen auf Weltklasseniveau.
Der Begriff der "Kontrolle" gehört offensichtlich eher in die Welt der etablierten Sportarten. Beim Bouldern etwa geht es nicht darum, eine Bewegung beliebig oft reproduzieren zu können: Eine einzige Begehung des Problems genügt. Viel wichtiger ist es, nicht zu viel Kraft zu verbrauchen und Risiken eingehen zu können. Die beiden letzten Punkte sind nicht unabhängig voneinander: Je weniger Spannung nötig ist, um einen bestimmten Zug zu machen, desto mehr Kraft kann gespart werden. Die Mentale Herausforderung besteht darin, sich auch tatsächlich zu entspannen, obwohl immer noch Unsicherheit vorhanden ist.
Als ich das Slacklinen kennenlernte, wurde mir klar, dass hier der letzte Punkt noch wichtiger ist. Beim Klettern lässt sich noch vieles über Kraft kompensieren. Beim Slacklinen geht das nicht mehr: Die Unsicherheit, das Wackeln, ist zum zentralen Element geworden. Ein unkontrollierter Abstieg ist nie völlig auszuschließen. Mich faszinierte der Gedanke, trotzdem die Spannung auf ein Minimum zu reduzieren - und damit auch die Kontrolle. (Dafür brauchte es keine schwierigen Slacklines - 15m Schlauchband genügen.)
Es war das damit verbundene Erlebnis, das mich vor einigen Jahren überzeugte, dass Slacklinen weit mehr ist als ein simpler Trend. Ich fand, dass dieser Sport auch der Gesellschaft etwas Wichtiges zu sagen hatte: Die Angst vor dem Kontrollverlust ist vielfach völlig übersteigert. Wir betreiben eine Menge Aufwand, um die Kontrolle aufrecht zu erhalten. Beispiele sind Überregulierungen in vielen Lebensbereichen, etwa im Straßenverkehr (die neuerdings glücklicherweise auch immer wieder hinterfragt und dereguliert werden). Dabei übersehen wir, wie wenig wir eigentlich in der Hand haben und wie sehr wir ausgeliefert sind, eine Erkenntnis, die sich bis tief in die Wissenschaftstheorie hineinzieht. Das Schöne dabei: Man kann das akzeptieren. Wer das versteht, wird einen überraschenden Gewinn an persönlicher Freiheit erleben.
Aus diesem Grund bin ich nicht besonders glücklich über die Rolle, die "Kontrolle" im Sport, und zuletzt auch immer mehr beim Slacklinen spielt. Freilich: Wer sich beim Solo-Highlinen der Lebensgefahr aussetzt, wird ein hohes Maß an Kontrolle brauchen, und auch beim Material ist die Fragestellung eine völlig andere. Abgesehen davon kann man sich fragen, ob Körperwahrnehmung und Kreativität nicht wichtiger sind, und ob der spielerische, eigenverantwortliche Zugang, den Trendsportarten bieten, nicht etwas Wertvolles ist, das es zu pflegen gilt, statt es unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Professionalisierung in ein Schema zu pressen und einer Illusion von "absoluter Kontrolle" nachzujagen, die es erwiesenermaßen nie geben wird.